4. Westliche Philosophie in Japan.
Die frühesten Kontakte Japans mit westlicher Philosophie beruhen auf der katholischen Missionstätigkeit in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Luis de Granada veröffentlichte in der ordenseigenen Druckerei in Amakusa eine Darstellung der Philosophie des Aristoteles, Pedro Gomez ein "Breve Compendium" der aristotelischen Seelenlehre (De Anima), Augustins Confessiones und Thomas von Aquins Summen wurden als Seminartexte gelesen, Pater Cosma de Torres hielt 1551 in Yamaguchi Disputationen mit Buddhisten ab. Diese erste Strömung wurde in Japan Kirishitan ("Christlich") genannt. Sie löste aber eine starke Gegenreaktion aus und wurde 1614 verboten.
Nach dem Verbot dieser Betätigungen wurde
seit 1720 durch ein Edikt des Shoguns Yoshimune nur noch die Beschäftigung mit und die
Übersetzung von Werken der sog. Rangaku ("Holländische Wissenschaft", die durch die allein zugelassenen
holländischen Kaufleute und Ärzte bekannt wurde) erlaubt. Es handelt sich allgemein um
westliche Mathematik und Naturwissenschaften, besonders Astronomie,
Medizinalwissenschaften und Militärwissenschaften, in Verbindung mit welchen aber auch
mancher philosophische Klassiker der Logik und Methodenlehre bekannt wurde. Vor allem der
deutsche Arzt Philipp Franz von Siebold, der sich als Holländer ausgab, hat in
Privatvorträgen für die deutsche Philosophie geworben. Als japanische Gelehrte, die sich
mit diesem westlichen Gedankengut beschäftigten, wurden bekannt Kaibara
Ekken (1630-1714) mit seinem Werk Taigiroku (Kritischer Traktat), Arai Hakuseki (1657-1725), Ando
Shoeki (um 1700), Tominaga Nakamoto
(1715-1746) mit seinem Buch Okina no fumi (Aufzeichnungen eines alten Mannes), Minagawa Kien (1734-1807) und Miura Baien
(1723-1789). Letzterer entwickelte in seinem Buch Gengo
(Feinsinnige Gespräche) eine naturphilosophische "Logik der
Dinge", in der er buddhistische Denkformen anwendete und damit zugleich das spätere
ausgebreitete Interesse für die westliche Dialektik initiierte. Takano Choei
(gest. 1844) erarbeitete eine "Philosophie-geschichte" (von Thales bis Kant)
unter dem Titel Bunken Manroku (Zufällig Gehörtes und Gesehenes) und setzte sich schon
damals für die Öffnung des Landes für westlichen Kulturaustauch ein, was er aber mit
lebenslanger Haft (er beging in der Haft Harakiri) büsste. Für die
"Philosophie" erfand er die japanische Bezeichnung Gakushi
(etwa: Höchste Wissenschaft oder Leitwissenschaft),
was sich aber nicht durchsetzte.
Um dem sich ausbreitenden Interesse an
westlicher Wissenschaft und Philosophie entgegenzukommen und es zugleich zu kontrollieren,
wurde um die Jahrhundertmitte ein "Zentrum für die Auswahl der 'barbarischen'
Literatur" (Bansho Shirabesho) gegründet, durch das Übersetzungen lizensiert und an
dem auch Vorlesungen über die westliche Philosophie gehalten wurden. Hier taten sich zwei
Gelehrte hervor: Nishi Amane (1829-1897) und Tsuda Masamichi (1821-1903). Durch Nishi Amanes Buch
Hyaku-ichi Shinron (Neue Theorie über Hundert und Eine, scl. Lehren) wurde zunächst die
Bezeichnung Ki-tetsu-gaku ("Griechische Klare Lehre") für das abendländische -
im Unterschied zum Chinesischen und Indisch-Buddhistischen Denken - verbreitet. Mit der
Zeit setzte sich aber Tetsugaku
durch und wurde dann die gewöhnliche Bezeichnung für "Philosophie" (was von
Japan aus auch in China mit denselben Schriftzeichen als "Zhe Xue" übernommen
wurde). Nishi Amane verbreitete auch die Kantischen Vorlesungen zur Anthropologie.
Nach der sog. Öffnung des Landes seit der Meji-Restauration (1868) wurden in Japan mehrere Hochschulen nach dem Vorbild westlicher Universitäten gegründet und ausländische Professoren herangezogen. An der Kaiserlichen Universität in Tokio (seit 1886) wurde das Englische allgemeine Lehrsprache. Da das Studium wesentlich in der Übersetzung englischer Texte ins Japanische und ihrer Aneignung bestand, wurden von hier aus auch die damals herrschenden englischen Philosophen und Wissenschaftler bekanntgemacht: J. St. Mill, J. Bentham, H. Spencer, Ch. Darwin. Auch französische Autoren wie Rousseau, Montesquieu und Comtes Positivismus wurden in Englisch verbreitet.
Für die Verbreitung der deutschen
Philosophie wirkten vor allem Ludwig Busse (1862-1907) und sein Nachfolger Raphael von
Koeber (1848-1923). L. Busse, ein Lotze-Schüler, benutzte Kants Kritik der reinen
Vernunft als Textbuch für seine Vorlesungen und machte den Neukantianismus bekannt. Sein
bedeutendster Schüler war Inoue Enryo (1859-1919),
der dann in Deutschland weiterstudierte und später eine Synthese von Hegelscher
Dialektik, monisti-schem Energetismus nach W. Ostwald und Tendai- sowie Kegon-Buddhismus
entwickelte. Er gründete auch ein erstes japanisches Philosophisches Institut
(Tetsugakukan ), aus dem später die
Toyo-Universität hervorging. R. von Koeber hatte in Moskau bei Tschaikowski Musik
studiert und später über Schopenhauer promoviert. In Japan gab er Klavierunterricht,
lehrte die klassischen Sprachen Griechisch und Latein und machte Schopenhauer und
mittelalterliche Philosophie bekannt. Unter seinem Einfluß stand besonders Miyake Yujiro
(1860-1945), der in seinem Buch Gekanshokei (Persönliche Ansichten) von 1892 die
Philosophie Schopenhauers und Eduard v. Hartmanns "Philosophie des Unbewußten"
mit buddhistischen Nirvana-Lehren verband. Er wirkte am Vorläuferinstitut der späteren
Waseda-Universität in Tokio.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand gegen diese auswärtigen Einflüsse eine vehemente Gegenbewegung eines nationalen Shinto und Konfuzianismus, die schließlich auch den Buddhismus als fremde Philosophie wieder aus dem Lande treiben wollte, was auch zur Zerstörung mancher buddhistischer Tempel und Kunstwerke führte. Erst die Verfassung von 1889 gewährleistete mit ihren Toleranzprinzipien für das 20. Jahrhundert eine ungehinderte weitere Interessenahme für die westliche Philosophie und den Import aktueller westlicher philosophischer Strömungen.
Sie entwickelten sich, wie schon bei der Übernahme der klassischen chinesischen Philosophie und des Buddhismus, am Leitfaden der nunmehr gemeinsam als einheimisch gel-tenden Shintolehren, des Konfuzianismus und des Buddhismus, die ein gemeinsames Funda-ment für die Assimilation westlicher Ideen abgaben. Ersichtlich blieben aber auch dafür die schon im 19. Jahrhundert angeeigneten Positionen des angelsächsischen Pragmatismus und Evolutionismus, der utilitaristischen Ethik und Sozialphilosophie (auf deren Grundlage Japan auch das kapitalistische Wirtschaftssystem übernahm) und der Deutsche Idealismus die wesentlichen Ausgangspunkte. Ersterer führte zu mannigfaltigen Amalgamierungen des welt-zugewandten konfuzianischen Denkens mit moderner Sozial-, Wirtschafts- und Staatsphilo-sophie, während letzterer vorwiegend auf Synthesen vor allem zenbuddhistischer Bewußt-seinslehren mit den Nachfolgerpositionen des Deutschen Idealismus (Neukantianismus, Fichte-anismus, Schellingianismus, Neuhegelianismus, aber auch Linkshegelianismus in der Gestalt des dialektischen Marxismus, Schopenhauerianismus) und seiner kontinentaleuropäischen Fort-führungen in der Phänomenologie Husserls, in der Existenzphilosophie (vor allem Heideggers und Jaspers) und eines humanistisch verstandenen Neo-Marxismus ausgerichtet blieb.
Das moderne Japan hat sich durch diese Übernahmen und Verschmelzungen aus dem eigenen Erbe ein ideologisches Fundament geschaffen, von dem aus es vor allem seit der Nachkriegszeit Dialogpartner der Weltphilosophie geworden ist. Das besondere Kolorit des genuin japanischen Denkens dürfte sich jedoch - wie könnte es anders sein? - dem Shinto verdanken, dessen sensualistischer Pantheismus noch immer hinter seiner avancierten Mikro-technik und "transzendentalpsychologischen" Zen-Mystik hervorleuchtet. Was von vielen japanischen Philosophen und auch westlichen Beobachtern als spezifisch "östliches Denken" im Gegensatz zu westlichem "Rationalismus" hervorgehoben wird, dürfte sich bei näherem Hinsehen durchaus als Einschuß dialektischer Denkmethodologie erwiesen, die auch im Westen trotz Nikolaus von Kues, Hegel und "dialektischem" Materialismus noch weithin als antirational und "unverständlich" gilt.
Literatur: G. K. Piovesana, Recent Japanese philosophical thought, 1862-1962. A survey, 2. Aufl. Tokio 1968, 3. revidierte Aufl. (1862-1994), Folkestone 1997; L. Brüll, Zur Entwicklung der japanischen Philosophie, in: H. Hammitzsch und L. Brüll (Hg.), Japan-Handbuch, 3. Aufl. Wiesbaden 1990, Sp. 1295-1320; Ienaga Seburo, Gairai bunka sesshushiron. Kindai seyo bunka sesshu no shisoteki kosatsu (Geschichte der Aneignung der ausländischen Kultur. Eine ideengeschichtliche Studie über die Adaptation der modernen westlichen Kultur), Tokio 1948.